Zu viele Reize gleichzeitig

    Die Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg ist für alle, die hier entlang kommen, eine Zumutung. An der Kreuzung Adalbertstraße staut sich der Autoverkehr, Radfahrer fädeln sich durch die Lücken. Alle paar Minuten schiebt sich ein BVG-Doppeldecker durch die enge Straße. Dazu die vielen Leute, die aneinander vorbeihasten. Es ist eng und laut und an Regentagen besonders nervig. So geht es mir. Wie anstrengend muss das für eine Autistin sein? Menschen im autistischen Spektrum fällt es schwer mit Reizüberflutung umzugehen.

    Ausgerechnet in der Oranienstraße hat Diversicon seine Räume, in einem ruhigen Hinterhof. Das junge Start UP ist eine Art Jobvermittlung für Autisten. Obwohl meist gut ausgebildet, sind diese überproportional häufig arbeitslos. Sie ecken im Team an, weil sie irgendwie anders ticken. Vorgesetzten erscheinen sie schwer zu lenken. Die Probezeit im neuen Job wird oft nicht verlängert.

    Im Gruppencoaching bei Diversicon erfahren Menschen, die die Diagnose Autismus erhalten haben, zum ersten Mal was das genau heisst. Und sie erleben, dass sie damit nicht alleine sind. Andere stehen genau wie sie vor dieser Herausforderung, nur ist diese bei allen ein bisschen anders. Autismus hat viele verschiedene Erscheinungsformen.

    Diversicon verhilft aber nicht nur zu neuem Selbstbewußtsein. Projektleiterin Sally Ollech arbeitet intensiv daran, Arbeitsstellen für Autisten zu finden. Dazu gilt es Personalverantwortliche von den besonderen Qualitäten zu überzeugen und Teams auf ihre neuen Kolleginnen und Kollegen einzustimmen. Das ist kurzgefaßt das, was auch mein Beitrag für die MDR-Sendung “Selbstbestimmt!” leistet. Im Mittelpunkt steht die 26jährige Juelz, die beredt über ihr Leben mit Autismus berichtet.

    Damit komme ich zurück zur Oranienstraße. Wie kann ich filmisch klar machen, wie sich Reizüberflutung anfühlt? Das habe ich mich gefragt, als ich am Konzept für den Beitrag saß. Wie geht es Juelz, was macht ihr Leben oft so anstrengend? Liege ich richtig, wenn ich plane, ihren Gang durch die Oranienstraße zu drehen und zu zeigen, was sie genau nervt?

    Im Fernsehbereich arbeiten wir oft mit solchen Vorannahmen. Ich denke mich hinein in die Lebenssituationen von ProtagonistInnen. Und dann frage ich sie: Ist das so, was ich mir ausdenke? Stimmt das so für Dich? Oder wie ist es wirklich? Wie kann ich Bilder finden, die das richtig darstellen, was dich ausmacht?

    Ich muss zugeben, ich war erleichtert, dass ich mit meiner Vorannahme bei Juelz richtig lag. Wir gingen bei Diversicon einfach vor die Tür und drehten, was wir sahen. Zusammen mit Juelz.

    “Selbstbestimmt!”,  10.3.2019, 8 Uhr, MDR

    Der Beitrag ab Minute 1:43 in der MDR-Mediathek