Mit Flüchtlingen in einem Boot

    Ein letztes Urlaubsfoto vor der Riesenfähre, die uns von Patmos nach Piräus bringen wird. Als ich auf den Auslöser drücke, ahne ich es nicht, aber die Aufnahme zeigt bereits, was mich schlagartig aus dem wohligen Gefühl von Sommer, Sonne, Strandurlaub in die Realität des Lebens zurückholt: Sie stehen oben an der Reeling, im Gegenlicht. In kichernder Ferienlaune klettern wir im Bauch des Schiffes hoch bis aufs Deck. Da sind sie plötzlich – 200 bis 300 Flüchtlinge. Sie kommen von Samos und wollen nach Athen und weiter. Genau wie wir.

    Damit hatte ich nicht gerechnet. Es trifft mich wie der Schlag. Ich hatte einfach nicht nachgedacht, dass ein Fluchtweg eben auch eine stinknormale Piräusfähre sein kann, die Reisende von den Inseln der Ägäis nach Athen bringt. Wer ein Ticket zahlen kann, kommt damit weiter.

    So nah war ich Menschen auf der Flucht noch nie. Flüchtlinge sehen nicht aus wie Urlauber. Die weiten Wege, die sie schon zurückgelegt haben, sind ihnen anzusehen. Viele tragen sehr schmutzige Kleidung, wann und wo hätten sie sich auch mal waschen können. Tage und Wochen auf der Flucht, wo sind sie schon überall gewesen, welche Furchtbarkeiten haben sie durchlebt? Einige haben sich auf den Boden gelegt und schlafen am helllichten Nachmittag tief und fest: Stress und Erschöpfung. Das Schiff bietet Sicherheit auf Zeit.

    Die nächsten neun Stunden teilen wir ein Boot mit unseren so unterschiedlichen Lebensperspektiven. Sie, die hoffnungsvoll in eine ungewisse Zukunft fahren – und wir, die wir nach Hause wollen, in unser gesichertes Leben als Deutsche. Das halte ich nur schwer aus. Mein Plan war bis zum Sonnenuntergang oben auf Deck zu sitzen, die Ägäis ein letztes Mal an uns vorbeiziehen lassen. Aber so nah beieinander mit den Flüchtlingen, das irritiert mich. Ich schäme mich für dieses Gefühl. Ich kann doch nicht mitten unter ihnen sitzen und so tun, als wäre nichts. Unsere Reiseroute hatte ich extra so gelegt, dass wir nicht nach Kos und Samos kommen. Ich wollte den Flüchtlingen nicht begegnen, ich bin keine sensationsheischende Gafferin. Ich wollte Urlaub machen, nur wenige Inseln entfernt. Nun habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich habe im Meer gebadet und meinen Spaß gehabt, ich saß vergnügt auf sicheren Booten und bin von Insel zu Insel geschippert, während für diese Menschen dasselbe Meer fast zur Todesfalle geworden wäre. Andere haben es nicht überlebt.

    Blick von oben auf Flüchtlinge an der Reeling

    Ich gehe unter Deck. Irgendjemand muss den Flüchtlingen gesagt haben, dass sie nur auf den beiden Oberdecks sein dürfen, wo es Plastikstühle gibt und der Wind pfeift. Oder ziehen sie sich selbst dahin zurück, mit dem Wissen nicht gewollt zu sein? In den gekühlten Lounges und Restaurants sind wir Urlauber und Griechen unter uns. Zweiklassengesellschaft. Das ist genauso merkwürdig.

    Ich finde für uns einen Platz, wo wir die Stühle so stellen, dass wir allem den Rücken zukehren und aufs Meer schauen können. Erst mal nachdenken. Ich bin Journalistin und ich könnte jetzt Stift und Block zücken. Aber ich bin noch im Urlaubsmodus, hatte mich für drei Wochen aus der Lage der Welt ausgeklinkt, ich war im medialen Off. Ich kann kaum einschätzen, was hier los ist. Ich erinnere mich an die Erzählung einer Freundin, die Anfang Juli aus dem Wanderurlaub in den Alpen zurückgekommen war. Bei der Fahrt von Bozen nach München hatte sie erlebt, wie Uniformierte erst eine Gruppe von Flüchtlingen in Salzburg aus dem Zug holte, die nächste Gruppe musste in Rosenheim raus. Keiner durfte weiterfahren.

    Ich gehe wieder hoch. Ich will es begreifen, auch als Urlauberin. Ich beobachte. Die Mehrzahl sind Männer, junge, kräftige, zwischen 20 und 30 Jahren. Wo sind ihre Familien, ihre Frauen? Allein zurückgelassen mit ihren Kindern in schwierigen Verhältnissen. Was müssen die noch alles ertragen, vor dem die Männer schon geflüchtet sind? Manche der Flüchtlinge sehen aus wie Studenten, bei einem sehe ich eine Laptop-Tasche. Die bürgerliche Mittelschicht hat am ehesten Geld für die Flucht und für diese Fähre.

    Zwei Frauen sitzen auf Stühlen an der Reeling und schauen aufs Meer

    Die wenigen Frauen tragen Hosen oder Jogginganzüge, darüber Kleider und Mäntel, praktisch, aber viel zu warm, und Kopftücher. Vermutlich kommen sie aus Syrien. Ich höre arabische Sprachfetzen. Sie haben kleine Kinder dabei, zwei sind hochschwanger. Mit der Familie auf der Flucht. Ich reise auch mit Kind, ich fühle mich verletzlich dabei, aber hey, wir machen nur Urlaub. Meine zehnjährige Tochter bemerkt: es fehlen die Kinder ihres Alters und die Jugendlichen. Zuhause gelassen oder vorausgeschickt? In ihrer Schulklasse gibt es ein Mädchen aus Syrien. Sie ist mit Mutter, Vater und drei Geschwistern vor anderthalb Jahren übers Mittelmeer nach Deutschland geflohen, vier Tage ohne Essen und nur mit wenig Wasser. Inzwischen spricht sie fließend Deutsch, ihr älterer Bruder geht aufs Gymnasium. Sie hat jetzt viele neue Freundinnen.

    Wir beobachten einen jungen Mann, der sorgsam einen wattierten Wintermantel und eine Strickjacke zusammenlegt. Sie haben ihm als Decke und Kopfkissen gedient. In weiser Voraussicht hat er sie eingepackt. Der Winter in Europa wird kalt werden. Er steckt sie in einen kleinen Tagesrucksack. Die meisten haben nur so kleines Gepäck. Damit kann man rennen, wenn es darauf ankommt. Die Rucksäcke haben eine undefinierbare schwarz-schmutzige Farbe angenommen. Wie ihre Besitzer sind sie schon lange unterwegs.

    Ich rätsele, woher die Menschen kommen. Der Hautfarbe nach sind einige aus Afrika, die meisten aus dem arabischen Raum, vermutlich viele aus Syrien aber auch aus Afghanistan und dem Irak. Eine Gruppe hat asiatische Gesichter, vielleicht aus Kasachstan. Ich scheue mich, in Reportermanier auf sie zuzugehen und zu fragen. In meinen Kopf flackert die Unterscheidung auf – Kriegsflüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge. In meinem Herzen empfinde ich Mitgefühl. Die Heimat verlässt keiner freiwillig. Kann ich helfen? Womit denn. Ich schenke mein Lächeln.

    Männer stehen an der Reeling. Dahinter ist die Insel Mykonos zu sehen.

    Das Schiff legt auf Mykonos an, die schrille Party-Urlaubsinsel. Der Hafen ist funktional, von der verspielten Schönheit der Kykladensiedlung ist wenig zu sehen. Ich stehe mit den Flüchtlingen an der Reeling. Ich bin eine von wenigen Urlaubern, die das tun. Sonst stehen hier bei jedem Stopp immer viele Touris, heute bleiben sie unter Deck. Berührungsängste.

    Ich komme mit einem Mann aus Kamerun ins Gespräch. Seit langem findet er daheim keine Arbeit mehr, er sagt, er muss zwei kleine Kinder durchbringen. Er hat irgendwas mit Kühlaggregaten gemacht, so genau verstehe ich sein afrikanisches Französisch nicht. Nun will er sein Glück in Europa versuchen. Irgendwo, er hat keinen Plan. Soll ich ihm sagen, dass die Chancen schlecht stehen? Ich weiche aus, sage, dass auch in Europa viele Menschen ohne Arbeit sind. Das weiß er. Klar doch. Aber wenn zuhause nichts mehr geht, dann ist es doch nur konsequent, es woanders zu probieren. Geschwister meiner Urgroßmutter sind auch ausgewandert, in die USA, auf der Flucht vor Armut.

    „Bist Du reich?“ fragt er mich. Nein, sage ich und zeige auf die schicken Yachten im Hafen. „Die gehören reichen Leuten. In Europa bemisst sich Reichtum an der Größe deines Hauses und deines Autos, an deiner Kleidung, deinem Essen, deinen Urlauben.“ Was für ein Quatsch. Natürlich bin ich reich für ihn. Ich habe Wohnung, Auto, Waschmaschine. Ich mache Urlaub.

    Der Mann aus Kamerun hat es bis nach Griechenland geschafft, es muss lange gedauert haben. Das Schiffsticket hat er bezahlt, den vollen Preis nehme ich an, hier gibt es keinen Flüchtlingsrabatt. Auf einem Fährschiff kann sich auch keiner illegal an Bord schleichen. Flüchtlinge müssen ein Papier vorzeigen, das die Reise nach Athen erlaubt. Woher er seins hat, erfahre ich bei unserer Plauderei nicht. Ich frage ihn ja nicht aus. Wie geht es weiter? „Je ne sais pas.“ Es ist eine Reise ins Ungewisse.

    Je länger die Fahrt dauert, desto gelöster wird die Stimmung unter den Flüchtlingen. Bald ist die Schiffsreise ans Festland Europa geschafft. Beim nächsten Fährstopp Syros renne ich an Deck in ein lustiges Dreiergrüppchen. Sie fotografieren sich gegenseitig mit dem Smartphone vor der beeindruckenden Kulisse der Hafenstadt. Die senfgelben und apricotfarbenen Häuserfassaden leuchten in der Dämmerung. Wo kommt ihr her, wo wollt Ihr hin, frage ich. Ich bin eben doch neugierig. Der älteste ist Mitte, Ende Zwanzig. Er ist aus dem Irak und weiß, wie es geht. Sein Plan: er will sich nach Nordeuropa durchschlagen, via Mazedonien und Serbien. Er zeigt auf die beiden jüngeren. „Meine Freunde, Brüder aus Syrien. Die gehen nach Deutschland.“ Ach so ist das.

    Wer erzählt eigentlich den Menschen, die sich auf den Weg zu uns machen, wie sie es am besten anstellen und was sie hier bei uns wirklich erwartet? Immer nur die Schlepper, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen? Wo sind die Flüchtlingsorganisationen? Hier an Bord könnte man mit den Flüchtlingen reden. Ich sehe eine Frau, Mitteleuropäerin, die mit einer Gruppe schwarzer Männer heftig diskutiert. Und ich beobachte einen blonden Mann, der lachend in einer Gruppe von Arabern sitzt. Sind es Urlauber, die in den Kontakt gehen?

    Annähernd neun Stunden dauert die Fahrt mit der Autofähre. Ich sorge mich, ob wir am Hafenbecken von Piräus durch ein Polizeispalier gehen müssen, die die Flüchtlinge rausholen, um sie in das nächste Auffanglager zu stecken. Es ist Mitternacht als wir anlegen. Wie immer stehen alle Fußgänger mit ihrem Gepäck unter Deck vor der Klappe, die jeden Moment runtergeht. Meine Tochter und ich, wir sind ganz hinten. Vorne irgendwo sehe ich die vielen dunklen Köpfe der Flüchtlinge. Wie fühlen sie sich jetzt wohl? Wie geht es für sie weiter?

    Die Klappe geht runter und aus dem Schiff ergießt sich die Menschenmenge, dahinter die Motorräder, Autos und LKW. Keine Polizei, keine Soldaten, nichts. Die Flüchtlinge ziehen ihrer Wege. Griechenland hat sie registriert und ist froh, um jeden, der weiterreist, lerne ich später.

    Bei unserer Ankunft in Berlin, sind sie da, die Beamtinnen und Beamten vom Grenzschutz. In einem engen Gang im Flughafen von Schönefeld fischen sie alle dunkelhäutigen Menschen raus und fragen nach dem Pass. Egal wie gut gekleidet sie sind, ob erkennbar Urlauber oder Geschäftsreisende, ob zu hören ist, dass sie mit ihren Reisepartnern oder Familienangehörigen Deutsch sprechen. Mein blondes Kind und ich, wir interessieren sie nicht. Willkommen in Deutschland.

    Zuhause dann, während ich an diesem Blogbeitrag arbeite, sehe ich im Fernsehen die Bilder aus Mazedonien. Wie Flüchtlinge versuchen, einen Platz im übervollen Zug zu ergattern, wie die Polizei Menschen, die einem Krieg entflohen sind, mit Blendgranaten beschiessen. Ich bin entsetzt. Diesen Weg werden die Flüchtlinge von unserer Fähre auch gegangen sein, die Frauen mit ihren Kindern, der Mann aus Kamerun und der aus dem Irak. Verzweifelte Menschen, die diesen verständlichen Wunsch haben, endlich anzukommen. In Sicherheit und Frieden. Die Schifffahrt war nur eine kleine Atempause.